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KRITIOS KNABE - Der Kritios-Knabe von der Akropolis

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2018-11-08 2022-02-20 08.11.2018
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Kritios-Knabe, Akropolis Museum,

Die im „Perserschutt“ der Akropolis 1 von Athen gefundene Statue des sog. Kritios-Knaben, die sich heute im Akropolismuseum unter Inventarnummer 698 befindet, wurde in mehreren Teilen bei Grabungen Ende 1865 oder zu Beginn des Jahres 1866 entdeckt. Der dazugehörige Kopf ist allerdings erst in der Grabungskampagne 1888, die der griechische Archäologe Panagiotis Kavvadias und der deutsche Architekt und Bauforscher Georg Kawerau leiteten, zutage gefördert und dann mit dem Torso Bruch an Bruch verbunden worden 2. Die aus Fragmenten zusammengesetzte Statue aus parischem Marmor erreicht eine Höhe von 1,17 m, allerdings fehlen einige Teile wie beispielsweise beide Unterarme und beide Füße sowie der rechte Unterschenkel und die Spitze des Penis. Außerdem ist das Werk an der Oberfläche stellenweise bestoßen und die in einem anderen Material eingelegten Augen sind gleichfalls verloren. Alles in allem hinterlässt das Werk einen guten Gesamteindruck trotz seiner Fehlstellen und offenbart den Fortschritt in der statuarischen Entwicklung der griechischen Kunst in der Übergangsphase vom 6. Jh. zum 5. Jh. v. Chr. Der Münsteraner Archäologieprofessor Max Wegner 3 schreibt über den Kritios-Knaben: „Die Schwelle zur Klassik des 5. Jahrhunderts ist deutlich überschritten angesichts des Marmorstandbildes eines Knaben, das gleichfalls von der Akropolis stammt. Es reiht sich der Folge frühgriechischer Jünglingsbilder an, wirkt aber eigentümlich knabenhaft, verglichen mit dem dauernd-jungen Wesen der archaischen Kuroi. Dieser Knabe lebt seine eigene Knabenhaftigkeit, steht nicht mehr in der vorbestimmten Seinsordnung wie jene, sondern verhält sich selbst. Seine Haltung ist gänzlich anders als diejenige archaischer Kuroi; nicht gebunden durch den festen Schrittstand, sondern in behutsamer Freiheit verteilt sich das Stehen in Anspannung und Halten des Körpers durch das linke Bein und leichte Entlastung des rechten, das ein wenig gewinkelt zur Seite gestellt ist. Daraus ergibt sich eine zarte Bewegtheit des ganzen Körpers, die die waagerechten Gliederungen des Rumpfes aus der Waagerechten und die Mittellinie gegen die lotrechte Körperachse verschiebt. Der Kopf ist leicht nach der rechten Seite gewendet, und der Blick scheint eine selbstbestimmte Richtung gehabt zu haben. (…) Der heiteren Geborgenheit archaischer Kuroi hält dieser Knabe sein heranwachsendes Wach- und Innewerden entgegen. Es regt sich in ihm das Vorfühlen eigenen Vermögens, sich selbst im Gleichgewicht zu halten und auf sich selbst gestellt zu sein. Er steht in den Jahren, in denen sich die  Knaben körperlich ertüchtigen und geistig heranbilden.“ 

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Kritios-Knabe, Akropolis Museum,

Die unbekleidete Statue des jungen Athleten ist nach Auffassung des Archäologen Wolfgang Hautumm ein gutes Beispiel dafür, „dass der Bruch mit den Konventionen der Kurosfigur der archaischen Zeit vollzogen ist“. Seiner Ansicht nach ist die Statue zwar dem üblichen Kurosschema folgend unbekleidet wiedergegeben, zeigt dafür aber einige wichtige Neuerungen im Aufbau der Figur. So ist nicht mehr, wie eigentlich bei den archaischen Kurosfiguren üblich, das linke Bein vorgesetzt, vielmehr ist „sein rechtes Bein, das sogenannte Spielbein, (…) im Knie leicht abgewinkelt, ein Stück nach vorne gesetzt und entlastet“, was den Archäologieprofessor Werner Fuchs 4 veranlasste, zu bemerken: „Völlig erreicht die neue funktionale Daseinsgestalt der Kritios-Knabe von der Akropolis, der kurz vor 480 wohl im Atelier des Kritios und Nesiotes geschaffen wurde. Stand- und Spielbein sind nun klar in ihrer Funktion unterschieden:  das linke Bein trägt die Last des Körpers, das rechte ist entlastet vorausgesetzt. Die Standbeinhüfte schiebt sich höher in den Leib, weil sich das Bein der Last des Körpers entgegen stemmt. Dadurch entsteht eine Kontraktion der Standbeinseite, während die Spielbeinseite geöffnet ist.“  

Diese Achsenverschiebungen sind in der Tat neu und reichen, wie Wolfgang Hautumm richtig bemerkt, „bis in den Schulterbereich“. Sie sind in erster Linie dadurch bedingt, dass die Beine neue Funktionen im Aufbau des Körpers erhielten, wie Werner Fuchs ausführte, und deswegen die Figur insgesamt plastischer werden ließen. Hinzukommt, dass auch die Arme unterschiedlich gestaltet sind. Schon Werner Fuchs merkte an, dass „der linke Arm (…) ruhig herab(hing), das Handgelenk (…) mit leichter Stütze dem Körper verbunden (war)“, wohingegen der Stützrest „am vorgesetzten rechten Oberschenkel“ anzeigt, „dass der rechte Unterarm weiter nach vorn reichte und in der vorgestreckten Hand wohl eine Schale hielt“. Wie Fuchs weiter ausführt, gilt dieser imaginären Schale auch „die leichte Drehung und Neigung des Hauptes“. Diese Beobachtung veranlasst Werner Fuchs des Weiteren zur Beschäftigung mit der Blickrichtung dieses Knaben, indem er anmerkt:  „Der Blick des Knaben wendet sich jedoch demütig der Gottheit zu. Das Bild eines Spenders, der sich selbst als schönstes Geschenk der Burggöttin darbringt, tritt vor unsere Augen.“ 5  - Und in der Tat: Auch diese Beobachtung trifft zu und zeigt das Neue in der plastischen Gestaltung des sog. Kritios-Knaben! 

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Kritios-Knabe, Akropolis Museum,

Neu ist auch, dass der gesamte „große Rhythmus der Figur, der alle Teile erfasst, klar auf die Mittelachse bezogen (ist) und (…) die linke Standbeinseite gehalten verharren (lässt), während rechtes Spielbein und rechter Arm nach vorn drängen und sich gegen die Gottheit (oder den Betrachter) öffnen“ (W. Fuchs). Werner Fuchs prägt deshalb den Begriff vom „antistrophischen Parallelrhythmus“ und fährt fort: „Dieser Rhythmus ist ein antistrophischer Parallelrhythmus, der aus der gegensätzlichen (und doch vereinten) Bewegung beider Körperhälften errungen ist. Aus dem großen Funktionszusammenhang der Daseinsform wird die frühklassische Gestalt geschaffen:  dabei ist die köstliche Oberflächenbewegung spätarchaischer Zeit noch nicht völlig verlorengegangen, sondern neu verstanden und von innen her gestaltet. Der Jüngling scheint zu leben und zu atmen, der leicht geöffnete Mund die Worte des Gebetes zu hauchen.“ 6

Trotz dieser Neuerungen im Aufbau der Figur zeigt sich dennoch sehr klar, dass auch der sog. Kritios-Knabe „wie schon die Männerbildnisse der geometrischen und der archaischen Zeit (…) das Ideal von Bewegungsfähigkeit und der dafür notwendigen Funktionstüchtigkeit von Körper und Gliedmaßen (demonstriert)“, wie Michael Siebler 7 richtig anmerkt. Dies ist völlig richtig gesehen, aber dennoch gingen die Bildhauer bei der Gestaltung des sog. Kritios-Knaben einen gewaltigen Schritt nach vorn in der Entwicklung des Männerbildes bei den Griechen, indem sie sich nun der „Beweglichkeit des menschlichen Körpers“ zuwandten und diese, wie Siebler formuliert, „sinnfällig dargestellt (wird) – mit allen Folgen für die Durchbildung desselben“. Zwar „verläuft die Mittellinie des Rumpfes noch senkrecht wie bei den archaischen ’Kouroi’, was eine strenge Beachtung von Waagerechte und Senkrechte für den Bereich zwischen Schulter und Taille zur Folge hat, und auch die beiden Arme hängen parallel an den Seiten herab“, aber dennoch ist etwas grundsätzlich Neues an dieser Skulptur zu beobachten, das Siebler damit begründet, dass der sog. Kritios-Knabe nun „das Gewicht seines Körpers mit seinem linken Bein trägt“, während „das andere (…) unbelastet auf dem Boden (ruht), leicht nach vorne gesetzt, um die Standsicherheit zu gewährleisten“. Diese Erkenntnis deckt sich haargenau mit den Beobachtungen von Werner Fuchs und zeigt das Neue in der plastischen Gestaltung dieser Figur. 

Begriffe wie „Ponderation“ und „Kontrapost“ spielen im Kontext des sog. Kritios-Knaben eine große Rolle. Ponderation in der Bildhauerkunst meint „den Ausgleich der Gewichtsverhältnisse des Körpers“. Dabei handelt es sich „um die Darstellung der Körperstruktur, d. h. der räumlichen Verhältnisse, die die einzelnen Körpersegmente zueinander einnehmen, und das daraus sich ergebende Verhältnis des Gesamtkörpers zur Schwerkraft.“ 8 Der andere Begriff, der in der Bildhauerkunst von großer Bedeutung ist, ist der „Kontrapost“, „ein Gestaltungsmittel in der Bildhauerei“, welches „das Nebeneinander von Stand- und Spielbein einer menschlichen Figur zum Ausgleich der Gewichtsverhältnisse“ bezeichnet, dabei „das Becken (…) aus der senkrechten Körperachse“ tritt. Demzufolge ist „der durch die hieraus resultierende Gewichtsverlagerung einsetzende Hüftschwung mit der Schieflage des Beckens in der Balance (…) symptomatisch für das Spiel mit Gegensätzen wie Ruhe – Bewegung, Spannung – Entspannung, Hebung – Senkung, die letzten Endes zu einem homogenen Ausgleich führen“ 9. Das sind also beides Begriffe, mit denen „das charakteristische Standmotiv der klassischen Epoche“ umschrieben werden kann und die hier beim sog. Kritios-Knaben bereits zur Wirkung kommen, zwar zaghaft und „zurückhaltend in der Ausbildung“, wie Michael Siebler formuliert, aber dennoch manifest. Hinzukommt noch ein weiteres Phänomen, das genannt werden muss und gleichfalls das Neue an dieser Skulptur zeigt:  Der Kopf zeigt eine neue, „modisch-kurze Athletenfrisur“ und nicht mehr „die langhaarige Lockenpracht ds 6. Jahrhunderts v. Chr.“ und ist darüber hinaus  leicht nach rechts geneigt. Verstärkt wurde dieser Blick zur Seite mit Sicherheit durch die Augen, die „aus anderen Materialien“ gearbeitet und einst eingelegt waren. Sie haben mit Sicherheit diese neue Blickrichtung noch unterstrichen. Wie Michael Siebler zu Recht betont, war damit „die geradezu als revolutionäre Neuerung zu bezeichnende Entwicklung der ’Ponderation’ (…) nunmehr unumkehrbar geworden. Denn schließlich wurde und blieb die uns heute so selbstverständlich erscheinende Unterscheidung von Stand- und Spielbein mit ihrer organischen Beweglichkeit und der daurch bedingten Wechselbeziehung der Körperteile bei Menschen und Tieren die Grundlage der europäischen Bildkunst bis in das 20. Jahrhundert.“

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Kritios-Knabe, Akropolis Museum,

Nach dieser eingehenden Analyse des sog. Kritios-Knaben, darin die wesentlichen Neuerungen dieser Figur aufgezeigt wurden, kommen wir nun zur zeitlichen Einordnung dieses kleinen Meisterwerkes und müssen feststellen, dass die Figur „ganz überwiegend in die spätarchaisch-frühklassische Zeit, konkret in das Jahrzehnt 490/480 v. Chr. datiert“. Eine gewisse Datierungshilfe bietet der „Perserschutt“ der Akropolis 10, also „die Schutt- und Planierungsschichten  (…), die durch die Aufräumarbeiten nach Plünderung und Zerstörung der Heiligtümer auf der Akropolis in Athen während der persischen Besetzung 480/479 v. Chr. entstanden sind“, darin die Einzelteile dieser Skulptur zusammen mit weiteren Statuen gefunden wurden. Dabei wird auch die Tatsache, dass die Oberfläche dieser Figur kaum Verwitterungsspuren aufweist, als weiteres Argument dafür genutzt, dass die Statue nur wenige Jahre im Freien stand und der Witterung ausgesetzt war, weswegen eine Datierung um 490/480 v. Chr. wahrscheinlich ist. Sicher ist indes, dass der sog. Kritios-Knabe noch in der Tradition der archaischen Kuroi steht, aber durch die genannten Neuerungen bereits dem beginnenden 5. Jh. v. Chr. angehören muss. Ponderation und Kontrapost zeigen die Veränderungen in der Entwicklung an und machen deswegen ein Datum um 490/480 v. Chr. sehr wahrscheinlich. Weitere wichtige Argumente für diese Datierung sind auch das verschwundene „archaische Lächeln“, das jetzt „schwerem, nachdenklichem Ernst gewichen ist“ (W. Fuchs) und die modische Kurzhaarfrisur des Athleten, welche die langhaarige Lockenpracht der archaischen Figuren ersetzt. Sandra Rutter 11 beschreibt die Frisur des sog. Kritios-Knaben sehr schön mit folgenden Worten:  „Hinsichtlich der Haargestaltung des Kritios-Knaben wäre zu sagen, dass er eine dermaßen außergewöhnliche Haardrapierung besitzt, dass man sie als Kritios-Knaben-Rolle bezeichnet. Erstmals wurde sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 5. Jh. v. Chr. verwendet und ihre Ursprünge sind in der Spätarchaik zu finden. Um den Kopf des Knaben ist ein breites, gerundetes Haarband gelegt, um das konzentrische Strähnen ’gewickelt’ wurden, damit man eine Haarrolle erzielt, die den gesamten Kopf weit über dem Nacken umgibt. Zwischen den Haarsträhnen ist jeweils eine Lücke, die den Reif sichtbar werden lässt. Neben der Haarrolle sind noch kurze flache Strähnchen vor den Ohren und jene gewellten am Nacken.“ 

Damit ist das Entstehungsdatum dieses sog. Kritios-Knaben einigermaßen exakt umrissen, von dem Werner Fuchs zusammenfassend sagt: „Aus dem großen Funktionszusammenhang der Daseinsform wird die frühklassische Gestalt geschaffen:  dabei ist die köstliche Oberflächenbewegung spätarchaischer Zeit noch nicht völlig verlorengegangen, sondern neu verstanden und von innen her gestaltet. Der Jüngling scheint zu leben und zu atmen, der leicht geöffnete Mund die Wort des Gebetes zu hauchen“. Also  kommen wir nun zur Werkstatt- bzw. zur Meisterfrage. Bereits der heutige Rufname der Statue  - der sog. Kritios-Knabe -  lässt die mutmaßliche Werkstattfrage anklingen und bringt die Werkstatt der Bildhauer Kritios und Nesiotes ins Spiel, deren Hauptwerk unbestritten die Gruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton ist, die 477/476 v. Chr. auf der Agora von Athen aufgestellt, eine bewegte Geschichte aufweist und von der sich eine gut erhaltene Marmorkopie im Archäologischen Nationalmuseum Neapel unter der Inv.-Nr. 906 12 befindet. Es stellt sich indes die Frage, ob das Marmorwerk des sog. Kritios-Knaben wirklich von diesem Künstlerteam geschaffen worden ist. 

Vielleicht kommen wir einer Lösung dieses Problems ein wenig näher, wenn wir weitere, in der Nachfolge des sog. Kritios-Knaben stehende Werke in Augenschein nehmen, um so noch stärker das Besondere dieser Arbeit herauslesen zu können. Bereits Werner Fuchs verwies zu Recht auf den „Jüngling von Agrigent“, eine Jünglingsstatue aus dem Heiligtum bei San Biagio 13 in der Nähe von Agrigento (Sizilien), die sich heute im Museo Civico in Agrigento befindet und eine Höhe von 1,10 m erreicht. Auch diese Marmorfigur zeigt eine ähnliche Kurzhaarfrisur und den voll ausgeprägten antistrophischen Parallrhythmus, wie W. Fuchs betont: „der zurückgehaltenen linken Körperseite mit der Kontraktion des Leibes über dem Standbein ist die geöffnete, nach vorn drängende rechte Körperseite mit vorgesetztem Bein und vorgestrecktem Arm klar entgegengesetzt. Die abgebrochene rechte Hand hatte wohl eine Schale gehalten. Dadurch wird auch dieser Jüngling, der als Athlet durch sein Nacktsein bezeichnet ist, zu einem spendenden Sieger, der sich selbst zugleich mit der Trankspende der Gottheit als Dankopfer darbringt. Zwischen 470 und 460 wird dieses Werk von einem großgriechischen Meister in attischer Tradition geschaffen worden sein.“ 

Ein weiteres wichtiges Werk in der Nachfolge des sog. Kritios-Knabe  ist der spendende Athlet, eine Bronzestatuette aus Adriano (Sizilien) im Museo Nazionale Archeologico in Syrakus, die gleichfalls um 470 v. Chr. gefertigt wurde. Dieses Bronzewerk mit einer Höhe von 19,5 cm zeigt deutlich, dass sein Meister „die neuen rhythmischen Möglichkeiten im Aufbau der Figur“ noch mehr ausschöpfte, indem jetzt „das rechte Bein (…) die Last des kräftigen Körpers“ trägt und obendrei der Kopf „ruckartig“ nach rechts gewandt ist. Außerdem waren die Augen einst separat eingesetzt und richteten ihren Blick auf die verlorene Spendeschale in der ausgestreckten rechten Hand des Athlet. Weiter analysiert W. Fuchs die Bronzestatuette wie folgt: „Der linke entlastete Fuß ist nur ein wenig zur Seite gestellt, der linke Arm ist ebenfalls weit vom Körper ab gestreckt. Großartig ist im Leib die Muskulatur artikuliert und klar zusammengefasst:  analog zur Bewegung des rechten Armes sind rechte und Brustmuskel gesenkt. Beide sind dabei im Verhältnis zur linken Seite verkürzt. Die dynamische Bewegung der kräftigen Gestalt ist danz auf die Schale in der Rechten konzentriert. Es ist ein Schwerathlet, der sein Dankopfer darbringt. Das bedeutende Werk muss im Umkreis eines großen Meisters, wahrscheinlich des großen Pythagoras von Rhegion, zwischen 470 und 460 entstanden sein.“ 14

Diese Beispiele belegen die Entwicklung der griechischen Skulptur in den ersten Jahrzehnten des frühen 5. Jhs. v. Chr. klar und deutlich und zeigen überdies, dass eigentlich erst in der frühen Klassik, also in den Jahrzehnten ab 490 v. Chr. „das Zeitmoment in der Skulptur von den Künstlern erfasst wird“, wie der Archäologe Werner Fuchs das nennt: „nicht mehr das Sein, sondern der Mensch in einem bestimmten Zuge seines Daseins wird dargestellt. Lessings berühmte Forderung nach der „Wahl des fruchtbaren Momentes“ für die Darstellung des Künstlers erhält überhaupt erst jetzt ihren Sinn, sie bleibt gegenüber der archaischen Kunst gegenstandslos.“ 

Damit sind wir am Ende unserer Betrachtung des sog. Kritios-Knaben angelangt und müssen an dieser Stelle die Bedeutung und Kraft dieser Figur der Jahre um 490/480 v. Chr. erkennen. Im Zusammenspiel mit den genannten anderen Beispielen müssen wir jedoch ehrlicherweise die genaue Zuordnung der Figur an eine bedeutende Bildhauerwerkstatt derzeit offen lassen; es ist zwar durchaus denkbar, diese Figur der Werkstatt des Kritios zuschreiben zu wollen, müssen allerdings eingestehen, dass das letzte Wort derzeit noch nicht gesprochen ist. Allerdings dürfen wir auch nicht übersehen, dass der sog. Kritios-Knabe von der Akropolis in eine  Reihe von Knabendarstellungen auf griechischen Vasenbildern eingegliedert werden kann, die unbekleidete Knaben in der Palaistra zeigen. Als Beispiele können ein weißgrundiges Alabastron 15 und ein zylindrischer Untersatz für ein Becken des Antiphon-Malers 16 genannt werden, darauf Knaben bei Aktivitäten in der Palaistra abgebildet sind und die Max Wegner 17 in seiner Studie als Beispiele angibt: „Durch die Art, wie sich die vier dargestellten Knaben rings um die enge Wandung des Gerätes von einander isolieren, sodass immer nur einer ganz für sich zu sehen ist, gewinnt jede einzelne Figur etwas Selbständiges, Statuarisches. Sie befinden sich nicht in lebhafter Tätigkeit, wie wir es noch bei älteren Malern sehen werden, vielmehr stehen beim Antiphon-Maler die Knaben gelassen da wie Standbilder. Die Turngeräte in den Händen sind nur Kennzeichen; es kommt dem Maler nicht auf die Erzählung von Verrichtungen an, sondern auf die Darstellung von Verhalten und tüchtiger Beschaffenheit. Nicht nur ihrer freien Haltung nach unterscheiden sich die Knaben des Antiphon-Malers von entsprechenden älteren Bildern, sondern auch durch eine rundere Körperlichkeit; dadurch wirken sie so recht wie Gegenstücke zu dem Marmorstandbild des Knaben von der Akropolis. Malerei und Plastik zielten damals in gleicher Weise auf freiere Rundung der Körper, und angesichts dieser Bildchen des Antiphon-Malers machen die linearen Formbezeichnungen der malerischen Wiedergabe besonders deutlich, worauf es den Bildnern der Menschengestalt in jenen Jahrzehnten ankam, was der Plastik nicht sogleich anzusehen ist. Der Maler vermeidet die um ihrer selbst willen schön geführte Linie; sie steht im Dienst der plastischen Verdeutlichung, macht Bewegungen und Wendungen des Körpers und die Anspannung der Muskeln anschaulich. (…). Beide Werke müssen annähernd gleichzeitig entstanden sein, und für das Knabenbild in dem schönen, vielleicht parischen Marmor, besitzen wir einen sicheren zeitlichen Anhaltspunkt. Nach seinen Fundumständen im  „Perserschutt“  muss es kurz vor der Zerstörung der Akropolis durch die Perser im Jahre 480 entstanden sein; es ist anscheinend eine Arbeit desselben Bildhauers Kritios, der nach der Vertreibung der Perser die neue Statue des Harmodios schuf, als Ersatz für die Gruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, das Werk des Antenor, die von den Persern verschleppt worden war. Man nennt den Knaben daher den Kritios-Knaben.“

Anmerkungen

  1. W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen, München 1969, 47 ff. Abb. 34 f. (mit Lit.).  W. Hautumm, Die griechische Skulptur, Köln 1987, 135 ff. Abb. 67 (mit Lit.). M. Siebler, Griechische Kunst, Köln 2007, 54 f.(mit Abb.).  S. R. Rutter, Der sogenannte Kritios Knabe – ein signum marmoreum des Kritios? Diplomarbeit. Graz 2011. Siehe auch: http://viamus.uni-goettingen.de/fr./sammlung/ab_rundgang/q/03/10., http://www.hellenica.de/Griechenland/Kunst/KritiosKnabe.html., http://de.wikipedia.org/wiki/Kritios-Knabe. C. Materna, Aristodikos und der „Kritios-Knabe“. Von der Bedeutung des Stils in der griechischen Plastik, in:  H. v. Steuben/G. Lahusen/Ch. Katsidou (Hrsg.), Mouseion. Beiträge zur antiken Plastik. Festschrift zu Ehren von Peter Cornelis Bol, Möhnesee 2007, 173-185.  
  2. J. M. Hurwit, The Kritios Boy:  Discovery, Reconstruction and Date, in: American Journal of Archaeology Bd. 93, Heft 1, 1989, 41-80  (zur Fundgeschichte), bes. 57-61 (zur Frage der Zusammengehörigkeit von Kopf und Körper). 
  3. M. Wegner, Meisterwerke der Griechen, Stuttgart 1960, 28 ff. Abb. 23.
  4. W. Fuchs, a. O., 47.
  5. Ders., a. O., 48 unten.
  6. Ders., a. O., 50.  
  7. M. Siebler, Griechische Kunst, Köln 2007, 54.
  8. https://de.wikipedia.org/wiki/Ponderation.  W. v. Wangenheim, Ponderation. Über das Verhältnis von Skulptur und Schwerkraft, Berlin 2010. 
  9. https://de.wikipedia.org/wiki/Kontrapost. 
  10. A. Lindenlauf, Der Perserschutt auf der Athener Akropolis, in: W. Hoepfner (Hrsg.), Kult und Kultbauten auf der Akropolis. Internationales Symposion vom 7. bis 9. Juli 1995 in Berlin. Archäologisches Seminar der FU Berlin, Berlin 1997, 45-115. M. Steskal, Der Zerstörungsbefund 480/479 der Athener Akropolis. Eine Fallstudie zum etablierten Chronologiegerüst (= Antiquitates. Archäologische Forschungsergebnisse Bd. 30), Hamburg 2004 (= Dissertation Univ. Wien 1999).
  11. http://archaeosammlungen.uni-graz.at/index.php?id=128.  
  12. Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton. Kopien nach Bronzeoriginal des Kritios und Nesiotes von 477/476 v. Chr. in Neapel:  W. Fuchs, a. O., 337 ff. Abb. 374 f.  B. Fehr, Die Tyrannentöter oder: Kann man der Demokratie ein Denkmal setzen?, Frankfurt/Main 1984  (= Kunststück). https://de.wikipedia.org/wiki/Tyrannen%C3%B6erder. 
  13. W. Fuchs, a. O., 49 ff. Abb. 36  (mit Lit.).
  14. W. Fuchs, a. O., 54 Abb. 39 f. (mit Lit.).  
  15. Weißgrundiges Alabastron. Ton. H. des Gefäßes: 18 cm.  Kunstgutlager Schloss Celle, vordem Staatliche Museen, Berlin.  M. Wegner, a. O., 30 f. Abb. 22.
  16. Untersatz des Antiphon-Malers.  Ton.  H.: 26,5 cm.  Hessische Treuhandverwaltung des früheren preußischen Kunstgutes, Neues Museum, Wiesbaden, vordem Staatliche Museen, Berlin.  M. Wegner, a. O., 30 f. Abb. 21.  
  17. M. Wegner, a. O., 30 f.